Spielball ausländischer Mächte

Spielball ausländischer Mächte

Die religiösen Kräfte im Libanon werden von außen politisch benutzt

Von Heiko Wimmen

Der Libanon, einst ein Modell für das Zusammenleben von Christen und Muslimen, steht erneut am Rande von gewaltsamen religiösen Auseinandersetzungen. Gegenwärtig bekämpfen sich vor allem die Muslime untereinander, die Schiiten und Sunniten. An der Oberfläche scheinen die Konfliktparteien und ihre Milizen meist mit einer der religiösen Gemeinschaften des Landes identisch: Katholische Maroniten, Sunniten, Schiiten, Drusen, Alawiten – auf einem Territorium etwa halb so groß wie Hessen beherbergt das kleine Land mit einer Bevölkerung von weniger als vier Millionen Menschen 18 offiziell anerkannte Religionsgemeinschaften. Diese potentiell explosive Mischung ist eine Folge des Ersten Weltkrieges und des Zerfalls des Osmanischen Reiches. Vor allem die katholischen Maroniten strebten damals einen Staat an, in dem Christen sich nach Jahrhunderten als Untertanen muslimischer Herrscher selbst regieren konnten.

Frankreich, das mit einem Mandat des Völkerbundes die osmanischen Herrscher ablöste, hatte mit dem Widerstand arabischer Nationalisten zu kämpfen und war nach dem erprobten Prinzip „Teile und Herrsche“ gern bereit, die separatistischen Neigungen der levantinischen Christen zu befördern – unter der Vormundschaft von Paris. Wie andernorts im Nahen Osten oder auf dem Balkan stießen die Staatsgründer jedoch schnell auf Probleme: Die Christen der östlichen Mittelmeerküste lebten in vielen kleinen, weit verstreuten Siedlungen, oft in unmittelbarer Nachbarschaft zu Muslimen, oder in multireligiösen Städten. Wollte man mit der Grenzziehung eine möglichst große Zahl von Christen (und möglichst alle Maroniten) in einem zusammenhängenden Staatsgebiet vereinen, dann musste man zwangsläufig auch eine große Zahl von Muslimen als Bürger akzeptieren. Ökonomische und strategische Erwägungen – Kontrolle über die Küstenlinie, die Häfen und das Agrarland – führten zur Angliederung weiterer überwiegend muslimischer Regionen im Süden, Osten und Norden des heutigen Libanon.

Im Ergebnis hatte das „christliche Refugium“ Libanon bereits bei der Staatsgründung knapp 50 Prozent muslimische Einwohner, von denen viele den neuen Staat zunächst ablehnten und für einen Verbleib bei Syrien eintraten. Erst zu Beginn der 1940er Jahre fanden christliche und muslimische Politiker zu einem historischen Kompromiss: Anstelle der Orientierung auf ausländische Schutzmächte sollte die Verpflichtung auf Libanon als unabhängige Nation treten, mit einer Teilung der politischen Macht zwischen Muslimen und Christen – die berühmte libanesische Formel der Koexistenz.

Danach werden hohe Staatsämter nach einem festgelegten Schlüssel unter den Konfessionen verteilt. Ein komplexes System von Vetorechten und Sperrminoritäten sorgt dafür, dass das Land praktisch nur mit Kompromissen und im Konsens regiert werden kann. So erhalten zumindest die größeren religiösen Gemeinschaften die Sicherheit, nicht an den Rand gedrängt zu werden. Die islamische Scharia könnte hier so wenig durchgesetzt werden wie ein Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen. Da alle Beteiligten die Empfindlichkeiten der anderen kennen, unterbleiben solche Initiativen meist von vornherein. In guten Zeiten haben diese Regelungen dem Land den Beinamen „Schweiz des Nahen Ostens“ beschert – ein Attribut, das neben den Gemeinsamkeiten bei der demographischen Vielfalt und der Topographie auch mit dem libanesischen Bankgeheimnis und Beiruts Rolle als sicherer Hafen für Fluchtkapital aus den instabilen Nachbarstaaten zu tun hat.

Doch als unmittelbarer Nachbar Israels hat der Libanon strategische Bedeutung: als Pufferstaat, als Brückenkopf in der arabischen Welt, als Aufmarschgebiet für Guerillakämpfer und neuerdings als Abschussrampe für Raketen, die möglicherweise unter iranischem Kommando stehen. Wann immer in der Region Konflikte auftreten, steigt der Druck auf Beirut, sich dem einen oder anderen Lager anzuschließen. Zumeist führt das zu einer inneren Zerreißprobe. Dann rächt sich, dass trotz aller Konsens- und Kompromissformeln die schon bei der Staatsgründung aufgetretenen Gegensätze ungelöst fortwirken: Nimmt der europäisch geprägte Libanon mit seinem religiösen  Mosaik eine Sonderrolle in der Region ein? Oder betrachtet sich das Land als Teil der arabisch-islamischen Welt?

Wer letzteres bejaht – historisch zumeist die Muslime –, kommt zu dem Schluss, dass der Libanon in der moralischen Pflicht stehe, bei Konflikten in der Region Partei zu ergreifen, besonders aber Front gegen Israel zu machen. Er riskiert damit, das Land in verlustreiche Konflikte mit dem militärisch übermächtigen Nachbarn zu verwickeln. Vor allem die libanesischen Christen haben einen solchen Kurs schon immer für gefährlich gehalten und meist für Neutralität oder gar Anlehnung an den Westen plädiert.

Angesichts solcher Gegensätze kommt das auf Konsens ausgerichtete politische System schnell an seine Grenzen, zumal sich meist ausländische Mächte einschalten und ihre jeweiligen Verbündeten zu kompromissloser Prinzipientreue ermutigen. Als nächstes wird dann zu den Waffen gegriffen, die meist von den ausländischen Schutzmächten bereitgestellt werden. So geschah es 1958, als die libanesischen Muslime dem panarabischen Nationalhelden Gamal Abdel Nasser folgen wollten, während die Christen eine Aufnahme in das westliche Bündnissystem anstrebten. Es wiederholte sich 1975, als die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO den Libanon in eine Operationsbasis für Guerillaattacken auf Israel verwandeln wollte, und 1982, als Syrien und Israel eine der letzten Etappen des Kalten Krieges auf libanesischem Boden ausfochten.

Der Hauptakteur im gegenwärtigen Konflikt ist die Hisbollah. Bis 2000 konnte sich die schiitische Bewegung darauf berufen, dass Israel Teile des Südlibanon besetzt hielt und somit Attacken auf die Besatzungstruppen nach dem Völkerrecht erlaubt waren. Doch nach dem Rückzug der Israelis wurde schnell klar, dass der „Widerstand“ weitergehen sollte – vorgeblich zur Befreiung eines umstrittenen Landstrichs im Grenzgebiet und einiger von den Israelis festgehaltener „Widerstandkämpfer“, tatsächlich aber wohl so lange der Staat Israel existiert. Diese Position ist im Libanon außerhalb der schiitischen Gemeinschaft kaum mehrheitsfähig. Doch bis zum Jahr 2005 sorgte die militärische und geheimdienstliche Präsenz Syriens im Land dafür, dass Widerspruch dagegen schnell im Keim erstickt wurde.

Nach dem Rückzug der Syrer nahm der internationale Druck zu, nun auch die „Partei Gottes“ und ihr Waffenarsenal unter die Kontrolle des Staates zu bringen. Dies führte einmal mehr zu inneren Konflikten, die mit Formelkompromissen nur notdürftig übertüncht werden konnten. Mit dem Sommerkrieg von 2006 sahen sich dann beide Seiten in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Vertreter der Neutralität und der Staatsräson beklagten, die Hisbollah habe das Land ohne Absprache oder gar Abstimmung in einen verlustreichen Konflikt mit Israel verwickelt und verfolge dabei vor allem syrische und iranische Interessen. Parteigänger des „Widerstandes“ beschuldigten dagegen die andere Seite der Kollaboration mit den USA und Israel, um die Hisbollah zu zerschlagen.

Absoluter Stillstand war die Folge: Das Präsidentenamt blieb für sechs Monate verwaist, das Parlament für 18 Monate verschlossen und das Tagesgeschäft wurde von einer Rumpfregierung versehen, der gut die Hälfte der Libanesen die Legitimation absprach. Anfang Mai 2008 kam es erneut zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Sie endeten zu Gunsten der Hisbollah und ihren Verbündeten, die in einer neu gebildeten „Regierung der nationalen Einheit“ eine Sperrminorität erwarben. Der Konflikt um die Abgabe ihrer Waffen wurde ein weiteres Mal vertagt.

Auch wenn außenpolitische Gegensätze die Auslöser der inneren Konflikte sind, gibt es tiefere Gründe dafür, dass sich die Libanesen so leicht gegeneinander ausspielen lassen. Denn das libanesische Modell der „Konkordanzdemokratie“ hat eine hässliche Kehrseite: Während es auf kurze Sicht allen Gruppierungen ein Stück vom Kuchen der Macht garantiert, zementiert es langfristig die Spaltung der Gesellschaft in konfessionelle Gruppen und wirkt gegen die Herausbildung eines einheitlichen Nationalgefühls.

Die Quotierung von politischen Ämtern und hohen Verwaltungsposten nach Konfessionszugehörigkeit führt dazu, dass sich ein großer Teil des politischen Tagesgeschäftes in hartnäckigem Feilschen um den jeweiligen Anteil der einzelnen Konfessionen an der Macht im Staat und um die Auslegung der entsprechenden Verfassungsvorschriften erschöpft. Von den Amtsinhabern wird erwartet, dass sie einen Teil der erlangten Pfründe weitergeben – in Form von staatlichen Dienstleistungen, Zugang zu Ressourcen, der Manipulation von Recht und Gesetz und vor allem bei der Vergabe von Jobs.

Was an der Spitze der Machtpyramide passiert, hat unmittelbare materielle Folgen – auch für Libanesen, die Religion am liebsten als reine Privatsache betrachten würden, wie eine Einwohnerin von Beirut berichtet. „Als mein Sohn seinen Schulabschluss in der Tasche hatte, haben wir versucht, für ihn einen Job bei der Polizei zu arrangieren“, erzählt sie. „Wir haben von allen Seiten die gleiche Antwort bekommen: Ihr seid Sunniten, also muss der Job aus dem sunnitischen Topf kommen. Und den kontrolliert der stärkste sunnitische Führer – damals Rafik El-Hariri. Also haben wir über Verwandte Kontakt zu einem seiner engsten Mitarbeiter hergestellt, und mein Sohn hat den Job bekommen.“

So wird ein Politikertypus gefördert, der seine Anhänger nicht mit politischen Programmen überzeugt, sondern mit der Fähigkeit, die relative Macht seiner eigenen Gemeinschaft zu stärken und ihr möglichst viele staatliche Leistungen zu verschaffen. Damit werden Wählerstimmen gewonnen. Doch um die Anhänger zum Kampf gegen die eigenen Nachbarn zu bewegen, müssen Angst und Misstrauen geschürt werden. Denn in der Regel leben solche Nachbarn friedlich nebeneinander.

Besonders Schiiten und Sunniten, die Widersacher im gegenwärtigen Konflikt, heiraten untereinander und behandeln sich im täglichen Umgang mit Respekt und Rücksicht auf die vermuteten Empfindlichkeiten des anderen. Eine der wichtigsten Kulturtechniken im Libanon besteht darin, beim Zusammentreffen mit Fremden aus deren Namen und geographischer Herkunft möglichst schnell die religiöse und konfessionelle Identität zu ermitteln, um die richtige Gesprächsebene zu finden. Sind sie unter sich, wechseln die Angehörigen derselben Konfession oft den Ton – dann tritt das Misstrauen zutage, auf welcher Seite der freundliche Nachbar stehen wird, wenn ein Konflikt droht.

Solche Ängste reichen weit zurück in eine gemeinsame Geschichte mit nie aufgearbeiteten Massakern und Gewaltverbrechen, deren Protagonisten zum Teil noch heute in Amt und Würden sind. Sie setzen sich fort in demographischen Entwicklungen und münden in die existentielle Furcht, dass es den „anderen“ mit Hilfe ihrer jeweiligen ausländischen Schutzmacht gelingen könnte, das Gesicht des Landes entscheidend zu verändern.

So fürchten die Sunniten die soziale und politische Dynamik der schiitischen Parteien und sehen ihre historische Führungsrolle unter den Muslimen in Frage gestellt. Die Schiiten haben Angst vor dem auf Petrodollars gegründeten Einfluss fundamentalistisch-sunnitischer und militant antischiitischer Staaten wie Saudi-Arabien. Die Christen sind uneins, von welcher der beiden muslimischen Gruppen die größere Gefahr ausgeht. Das erklärt neben persönlichen Rivalitäten zwischen einzelnen christlichen Politikern auch, warum eine der größten christlichen Parteien 2006 ein politisches Bündnis mit der Hisbollah eingegangen ist.

Wann immer einer der am Nahostkonflikt beteiligten Staaten – Israel, die USA, Syrien, Iran – den Libanon weiter in das eigene politische Lager ziehen will und zu diesem Zweck seinen Verbündeten im Land den Rücken stärkt, mobilisiert die Gegenseite die tiefsten Ängste und dunkelsten Erinnerungen ihrer Anhänger gegenüber den Partnern im Staat. Vorgeblich wenden sich die Anhänger der jetzigen Parlamentsmehrheit – Drusen, Sunniten und ein Teil der Christen – gegen die Verwandlung des Libanons in eine islamische Republik nach dem Vorbild des Iran, während die Schiiten und ihre christlichen Partner das Gespenst eines saudisch-amerikanischen Protektorats beschwören. Tatsächlich treibt viele dieser Politiker mindestens genauso sehr die Furcht um, die ausländische Unterstützung könne es der Gegenseite erlauben, langfristig mehr Macht zu ergattern.

Immer wieder führen die Libanesen damit die Kriege anderer. Das Land wird von Konflikten zerrissen, in denen außer einigen wenigen skrupellosen politischen Führern niemand etwas zu gewinnen hat – erst recht nicht die große Mehrheit der überwiegend zivilen Opfer. Mehr als 100.000 Libanesen sind allein in dem 15-jährigen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 ums Leben gekommen. Ein Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt wird erst möglich sein, wenn die überwiegende Mehrheit der Libanesen den gemeinsamen Staat über ihre Religionsgemeinschaft stellt und politischen Führern, die aus kurzsichtigem und eigensüchtigem Kalkül Ressentiments und Misstrauen anheizen, die Gefolgschaft verweigert.

Diese Tendenzen hat es in der Vergangenheit gegeben: In den 1960er Jahren drängte eine entschlossene politische Führung mit der Stärkung staatlicher Institutionen den Einfluss solcher Politiker zurück und gab den Bürgern das Vertrauen, dass ihre Interessen und ihre Sicherheit am besten bei einem neutralen Staat aufgehoben sind. Und in den 1980er Jahren verursachte der Kampf aller gegen alle ein solches Maß an Zerstörung, dass sich mehr und mehr Menschen von den dafür verantwortlichen Führern und ihren Parolen abwandten.

Der nach den Kämpfen im Mai geschlossene Kompromiss hat einen Bürgerkrieg vorläufig abgewendet. Doch anstelle eines langfristig angelegten Reformprozesses werden es die auf ihren eigenen Machterhalt bedachten Führer der einzelnen Fraktionen wohl wieder bei Formelkompromissen bewenden lassen – bis zum nächsten Mal.

Heiko Wimmen ist Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut.

welt-sichten 8-2008

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2008: Die Macht der Religionen
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